Montag, 1. Mai 2017

Francesco Spampinato – Art Record Covers (2017)

Seit den Siebzigerjahren, als ich die Musik für mich entdeckte, liebe ich LPs nicht nur wegen der Klänge, die eine feine Nadel dem meist schwarzen Vinyl entlockt, sondern zugleich wegen der vielfältig gestalteten Cover. Und bisweilen setzt sich die Kreativität im Inneren fort. Klappcover und die Schutzhüllen (Sleeves) der LPs bieten viel Platz dafür. Mitunter erfreuen den Sammler weitere Extras wie der echte Reißverschluss zum Auf- und Zuziehen auf dem Cover des Rolling-Stones-Albums „Sticky Fingers“ (1971), der Umschlag mit Fotos und einem Konzertplakat bei „The Who Live At Leeds“ (1970) oder das ausklappbare Schutzschild bei „Warrior On The Edge Of Time“ von Hawkwind (1975). Bemerkenswert ist auch das Dreifachalbum „Lotus“ von Santana (1974), welches den Fans als opulentes Gesamtkunstwerk mit zwei vierteiligen Postern reichlich zu blättern, zu gucken und zu staunen gibt. Es wurde entworfen von Tadanori Yokoo, der am Design von vier Santana-Alben beteiligt war.

Schallplattencover sind ein faszinierender Zweig der Gebrauchskunst. Sie müssen zur Musik und zur Identität der Musiker passen und obendrein vielleicht deren Logo oder andere Erkennungsmerkmale tragen wie die leckende Zunge („Tongue and Lips“) der Rolling Stones, den geschwungenen Schriftzug von Chicago, den Skarabäus von Journey oder die vier senkrechten Balken von Electric Flag.

© Taschen-Verlag
Kein Wunder also, dass ein Buch mit dem Titel „Art Record Covers“ von Francesco Spampinato und Julius Wiedemann aus dem Taschen-Verlag sofort mein Interesse weckt. Sein Name lässt erwarten, dass es Cover präsentiert, bei denen die Betonung eher auf Kunst als auf Gebrauch liegt. Sein Steckbrief: Hardcover mit stabilem Schutzumschlag – 30 x 30 cm groß – 4,5 cm dick – 449 Seiten stark – über 3,8 kg schwer – viel hochwertig anmutendes Material also für 49,99 Euro.

© Taschen-Verlag
Ich schau hinein und stelle fest: Kunst muss nicht schön sein. Mehr noch… Kunst darf oftmals nicht schön sein. Sie verpackt ja nicht immer nur Entspannungsmusik und eingängige Sounds, sondern häufig Punk, Rap, Metal, Independent Music und ähnliches – zornige, laute, anklagende, kritische, grenzwertige oder experimentelle Klänge. Analog dazu sollen die Cover aufrütteln, verstören, erschrecken, abstoßen, verwundern, nachdenklich oder neugierig machen. All das findet man hier. Hübsche Cover bietet „Art Record Covers“ ebenfalls, doch die sind klar in der Minderheit. Stattdessen: Kunst an den Grenzen der Kunst für Musik an den Grenzen der Musik.

Neben mehr als 500 Plattencover enthält das Buch auf den ersten 69 Seiten auch einigen Text – jedes Kapitel nacheinander in Englisch, Deutsch und Französisch abgedruckt und mit Beispielen illustriert. Eine Einleitung skizziert die Geschichte von anfänglich schlichten Kartonhüllen zu den heutigen Kunstwerken. Ihr folgen Interviews mit Tauba Auerbach, Shepard Fairey, Kim Gordon, Christian Marclay, Albert Oehlen und Raymond Pettibon – allesamt Künstler, die zahlreiche Cover entworfen haben und teilweise auch selbst Musiker sind. Das Blättern im bunten Buch ist schon reizvoll. Doch erst die Interviews wecken Verständnis für die Kunst und die teils schrägen Motive. Indem die Künstler über ihre Zusammenarbeit mit Musikern und die Entstehung von Covern berichten und uns an ihrer persönlichen Entwicklung teilhaben lassen, fügen sie ihren Grafiken eine weitere Dimension hinzu und füllen sie erst mit Leben.

Wir finden hier die persönliche Auswahl von Francesco Spampinato, Kunsthistoriker und zur Zeit an der Universität Sorbonne Nouvelle in Paris tätig, und Julius Wiedemann, Grafikdesigner und Kunstredakteur. „Die Intention dieses Buches ist (…), das Plattencover als vollkommenes Medium für einen erweiterten Kunstbegriff zu präsentieren“, schreibt Spampinato. Aber nicht nur Randbereiche sind vertreten, sondern auch prominente Künstler wie Joseph Beuys, Salvador Dali, Roy Lichtenstein, Henri Matisse, Joan Miró, Pablo Picasso, Gerhard Richter, Victor Vasarely, Andy Warhol und Ai Weiwei. Von Andy Warhol stammen neben etlichen anderen das John-Lennon-Album vorne auf dem Buch sowie die bekannten und ebenfalls formatfüllend abgebildeten Cover von Velvet Unterground and Nico mit der Banane und das bereits erwähnte „Sticky Fingers“ der Rolling Stones. Daher sagt Spampinato auch zutreffend: „Jeder kann sich seine Kunstsammlung aufbauen, denn viele der Platten sind günstig auf dem Flohmarkt, in Plattenläden oder online erhältlich.“

© Taschen-Verlag
Ich kann „Art Record Covers“ jedem Musikfreund empfehlen, für den Musik mehr ist als nur MP3-Downloads – jedem, der sich auch für die Albumkunst interessiert und mehr über ihre Hintergründe erfahren möchte. Darüber hinaus dürfte dieses Werk zeitgenössischen Künstlern durch seine Vielfalt und Bandbreite der künstlerischen Ideen mancherlei Anregungen bieten.